Schwarz-Weiss-Fotografie


Schwarz-Weiß-Fotografie im Zeitalter der digitalen Farbbilderflut



Welcher Stellenwert kommt der Schwarz-Weiß-Fotografie in der Gegenwart zu? An einem ausführlich erörterten Bildbeispiel und anhand einiger kurzer Hinweise auf andersartige Schwarz-Weiß-Bilder möchte ich meine Gedanken dazu darlegen.


1.


Meine These zum oben wiedergegebenen Bild: 


Dies ist ein Bild der Schwarz-Weiß-Fotografie. Farbe wäre nicht nur ein überflüssiges Element, sondern würde der Bildwirkung schaden. Sie würde ablenken von dem, worauf es ankommt. 

Vier Menschen im Vordergrund. Drei davon, die um den Tisch gruppierten Männer, scheinen eine Einheit zu bilden. Wir können nur deren Rücken sehen – aber das ist aussagekräftig genug: die breite, kräftige Gestalt, die behäbig-lässige Haltung – routiniert verfolgen sie das Geschehen auf dem Spielfeld. Ein Wochenend-Ritual auf dem Fußballplatz. Die Bierflaschen auf dem Tisch unterstreichen diesen Eindruck. Nur die Pokale lassen erahnen, dass es an diesem Tag um etwas mehr gehen könnte als bei einem ganz gewöhnlichen Spiel.

Ein Mädchen steht auffällig, wie demonstrativ, abgewandt hinter einem der Stühle. Das Konträre der Gruppen – vorgegeben durch die Ausrichtung und die Blickrichtung der Personen – wird auf den zweiten, genaueren Blick relativiert. Das Kind und einer der drei Männer gehören offenbar näher zusammen als die drei Männer untereinander, trotz deren ähnlicher Haltung. Denn das Kind scheint sich teils an den Stuhl, teils an den Rücken des einen Mannes anzulehnen. Das lässt darauf schließen, dass es sein Vater ist, der hier offenbar eine Funktionsrolle im Fußballturnier erfüllt. Und doch sind diese beiden Personen voneinander abgewandt und dadurch in einem spannungsgeladenen Verhältnis. Das Kind dreht dem Geschehen auf dem Fußballfeld den Rücken zu, die Blickrichtung ist entgegengesetzt, in die Ferne gerichtet. Die Männer, auch der, bei dem es sich vermutlich um den Vater handelt, ignorieren das Kind. Für sie ist nur das Fußballspiel von Belang.
Daraus resultiert ein etwas bedrückendes Verhältnis, das wir als Betrachtende des Bildes unterschwellig wahrnehmen und das in uns eine kritische Auseinandersetzung mit den Personen hervorruft. Das Kind und sein Verhältnis zu den auf das Fußballspiel fixierten Männern steht also offenbar im Mittelpunkt des Interesses.


Die Szene im Foto


Diese Feststellung eröffnet ein Spannungsfeld auch unter dem Gesichtspunkt des Bildaufbaus. Denn das Kind steht am Bildrand, und es blickt „aus dem Bild heraus“. Das widerspricht gängigen, klischeehaften Regeln vom Bildaufbau. Zur Hauptgestalt, die die Aufmerksamkeit des Betrachters trotz der Randstellung anzieht, wird es einerseits dadurch, dass es als einzige Person dem Bildbetrachter halb seitlich zugewandt ist, ihm nicht den Rücken zuwendet, was alle anderen Personen tun. Neben dieser Anordnung der Personen sind es auch die Helligkeitswerte im Bild, die den betrachtenden Blick zunächst auf die Menschen im Vordergrund lenken, und der Umstand, dass nur diese Personengruppe scharf abgebildet ist. Die Spieler im Hintergrund sind nicht wichtig. Sie gehören zwar zum Bild dazu, zumal sie die Dynamik des Spiels zeigen und dadurch den Gegensatz zur Statik des Vordergrundes unterstreichen. Das Dorf als soziales Umfeld wird ebenfalls erkennbar. Aber all dies bleibt buchstäblich unscharf. Es trägt nicht wesentlich zu den zentralen Gesichtspunkten bei, lässt aber wohl den Hintergrund (im doppelten Sinne) der Szene erkennen. 
 

Was im Bild zum Ausdruck kommt - oder kommen sollte


Vielleicht nimmt ein Betrachter dieses Bildes nur das gegensätzliche Interesse dieser beiden Personengruppen wahr. Wahrscheinlich aber entwickeln die meisten – bewusst oder unbewusst – eine innere Haltung zu diesen Personen. Der Gegensatz löst Gedanken und Vorstellungen aus. Wir fragen uns unwillkürlich: Was drückt die Haltung des Kindes aus, zum Beispiel die Fußhaltung, und worauf lässt sie schließen? Das führt uns weiter zu der Frage: Was geht in diesem Kind gerade vor? Wartet es gelangweilt, vielleicht ungeduldig auf das Ende des Fußballspiels? Ist das Kind genötigt worden, den Vater auf den Fußballplatz zu begleiten, obgleich es sich überhaupt nicht für Fußball interessiert und sich lieber mit etwas anderem beschäftigen würde? Fühlt es sich vom Vater vernachlässigt, weil dem das Fußballspiel wichtiger ist? Oder hat es doch ein wenig Verständnis für die Fußballleidenschaft und die Funktionsaufgabe des Vaters?
Das sind Fragen, die sich dem Betrachter stellen oder stellen können, je nach den Lebenserfahrungen. Welche Gedanken es sind, ob sie mehr zum Mitgefühl, zu einer inneren Solidarisierung mit dem Kind führen, ob sie zwiespältig bleiben oder ob das demonstrative Desinteresse das Kindes an dem, was seinem Vater wichtig ist, ein Tadeln provoziert, das mag bei jedem Betrachter etwas anders sein. Eine „richtige“ Reaktion des Betrachters auf das Bild gibt es nicht.

Kann man dem Bild ein Anliegen, eine „Aussage“ zuordnen? Was löst nun dieses Bild im Betrachter weiter aus? Welche der Fragen wendet er auf sich selbst, auf seine eigenen Werthaltungen, seine eigene Lebenssituation an? Das mögen allgemeine, weiterführende Fragen sein. Ist das Kind wirklich vernachlässigt dadurch, dass es im Moment nicht beachtet wird? Ist es nicht legitim, dass der Vater sich jetzt nicht darum kümmert, sondern sich dem Fußballspiel zuwendet, seinem Ausgleich für die Berufsarbeit der Wochentage, zumal ihm offenbar eine Funktion zukommt, wie es die Pokale auf dem Tisch vermuten lassen?

Das sind berechtigte Fragen. Das Allgemeine, das in diesem Bild zum Ausdruck kommt, ist ein Dilemma vieler Eltern: Sollen sie sich in der Freizeit, in der begrenzten Zeit am Wochenende, ganz an den Bedürfnissen der Kinder orientieren und weitgehend ihre eigenen Interessen zurückstellen? Der Vater hat vermutlich während der Woche gearbeitet, und es mag für ihn ein wichtiger Ausgleich sein, seine Fußball-Leidenschaft nicht unterdrücken zu müssen…
Es gibt keine einfache Antwort auf diese Fragen.


Warum als Schwarz-Weiß-Bild? 


Wir können jetzt überlegen: Wenn das Bild in Farbe gemacht oder gezeigt werden würde, könnten die Trikots der Spieler auf dem Spielfeld mit ihren kräftigen Farben den Blick des Betrachters anziehen – und dadurch vom Wichtigen abziehen. Dieses Bild in Farbe? Nein. Farben würden ablenken. Darum ist dies ein Schwarz-Weiß-Bild. - 
Zurück zu den Überlegungen am Anfang.

Wenn ein Bild aus der alltäglichen Wahrnehmung herausgelöst wird und dadurch besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann kann es etwas in dem Betrachter auslösen. Entscheidend ist es, ob dies gelingt.

Das muss nicht eine klar bestimmbare „Aussage“ sein (im Sinne einer Botschaft, die an die betrachtende Person weitergeben werden soll), es kann eine beklemmende Frage sein, auf die man selbst keine eindeutige Antwort geben kann – eben dadurch entsteht eine ergreifende Wirkung.
Es kann ein menschlicher Konflikt sein, der beispielhaft zum Ausdruck kommt.

Es kann aber auch einfach eine besondere Form oder ein Muster sein, auf das das menschliche Empfinden in besonderer Weise anspricht. Es gibt noch viele weitere Möglichkeiten. Entscheidend: Das Bild wird etwas in der betrachtenden Person auslösen, eine irgendwie berührende Wirkung erzielen.


Beim Fotografieren…


Wer ein Schwarz-Weiß-Foto erstellt, ist daher herausgefordert, sich umso mehr Gedanken zu machen beim Fotografieren. Denn es geht nicht nur darum, zu überlegen, wie das, was man in Farbe vor sich sieht, in Schwarz-Weiß wirken wird. Es geht vielmehr darum zu spüren, was in dem Bild, mit dem Bild ausdrückt wird - welche Wirkung bei den Betrachtenden wahrscheinlich ausgelöst wird.


Beim Ausarbeiten des Bildes…


Wenn wir aus einem Bild etwas abziehen (z.B. das Element der Farbe), dann wirken die bleibenden Elemente des Bildes umso stärker, und wir müssen sie umso sorgsamer einsetzen. Dazu gehören z.B. die Helligkeitsverteilung, das Setzen der tiefsten Schwarz- und der hellsten Weiß-Werte, der Kontrast, die Tonwertabstufungen, der Umstand, ob das Bild insgesamt sehr hell oder sehr dunkel ausfallen soll. Es ist angebracht, auch dem Bildaufbau und der Blickführung des Betrachters noch etwas mehr Aufmerksamkeit  zu schenken als sonst - auch in dieser Hinsicht ist der Anspruch an den Fotografen eher größer.


Sich lediglich zu fragen: Wie wird wohl das, was ich gerade farbig vor mir habe, in Schwarz-Weiß aussehen? Geht das Bild auch in schwarz-weiß? - Das wäre ein zu vordergründiger Ansatz.


Wichtig ist es zu spüren: das Bild wirkt ohne Farbe intensiver. Erst danach, an zweiter Stelle, kommen all die Aspekte, die auf vielen Internetseiten über Schwarz-Weiß-Fotografie als erste behandelt werden: die einzelnen Gestaltungsmittel. Oft ist zu lesen, dass es auf den scharfen Kontrast zwischen Schwarz und Weiß ankomme oder ähnliche Dinge. Das sind alles nur einzelne mögliche Gestaltungsmittel. Aber man sollte nicht bei einzelnen Gestaltungsmitteln ansetzen, ohne zu fragen, was sie eigentlich gestalten wollen. 


Dieses Bild gehört in die Gruppe jener Fotos, die ungeplant entstanden sind. Die Szene wurde zufällig bei einem Fahrradausflug an einem Wochenende (in den 1980er Jahren) beobachtet. Der Griff in die Fototasche galt nicht dem Kameragehäuse mit dem Farbfilm, sondern dem anderen, in das ein Schwarz-Weiß-Film eingelegt war. Eine Folge von mehreren Aufnahmen entstand. Das oben wiedergegebene Foto wurde für die Ausarbeitung ausgewählt, weil hier das, was zum Fotografieren bewegte, am besten zum Ausdruck zu kommen schien.

Es folgen zwei Beispiele für die weiteren Bilder, von denen das erste nicht in die engere Wahl kam, das zweite aber durchaus länger geprüft wurde - gerade wegen des leeren Spielfeldes, weil die Blicke der Männer ebenfalls in Leere zu gehen scheinen:


2.


Schwarz-Weiß-Fotos bringen etwas zum Ausdruck – dabei muss es sich natürlich nicht um Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikte handeln. Es können auch Landschaftseindrücke in besonderer Atmospäre sein. Wenige Stunden, nachdem die Bilder vom Rande des Fußballfeldes entstanden waren, führte die Fahrradtour zu einer Stelle, an der wiederum die Kamera mit dem Schwarz-Weiß-Film aus der Fototasche gezogen wurde.


Eine Szene im grellen Licht der Mittagssonne an einem Frühsommertag. Nahezu scherenschnittartig wirken der Kutschwagen und die Tiere unterhalb und oberhalb davon. Die harten Kontraste zwischen den Bildelementen im Schatten und den im gleißenden Sonnenlicht liegenden Oberflächen des Wagens, auch der Dunst im Hintergrund lassen die Hitze des Tages erahnen.   


3.


Schwarz-Weiß-Fotos können aber auch geplant entstehen, um etwas zum Ausdruck zu bringen, was den Fotografen bewegt. Das kann sich in der Suche nach geeigneten vorfindbaren Motiven niederschlagen, aber auch in einer herbeigeführten Konstellation.

Die beiden gezeigten Stillleben-Bilder stammen aus einer umfangreicheren Serie. Verschiedene Gegenstände wurden in verschiedenen Glasgefäßen angeordnet, die jeweils auf einem Spiegel stehen. Einige der Gegenstände sind in allen Bildern zu sehen, andere nur in einem der Fotos. 
Die Bilder sollen verschiedene Stadien der (inneren) Ruhe oder Anspannung ausdrücken. Das war die selbstgestellte Aufgabe. 
Die Gegenstände sollen andeuten, mehr oder weniger offensichtlich oder aber verrätselt, wodurch eher Gelassenheit oder eher Spannung ausgelöst wird.

Natürlich kann nicht erwartet werden, dass jeder Betrachter alles nachvollziehen kann, die Bedeutung aller Elemente lesen und gewissermaßen „übersetzen“ kann. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Wenn jemand etwas mit den Bildern anfangen kann und nicht nur kopfschüttelnd darüber hinweggeht, dann ist es gut. Gut ist es bereits, wenn eine Irritation ausgelöst wird.

Es kann aber auch sein, dass jemand gar nichts mit diesen Bildern anfangen kann. Dann könnte kein Bildautor daraus den Vorwurf des Nichtverstehens oder Missverstehens ableiten. 



4.


Zum Ausdruck bringen durch Reduktion, durch Weglassen: Das kann man noch einen Schritt weiter treiben, indem man nicht nur die die Farbinformationen weglässt, sondern darüber hinaus auch einen Teil des Tonwertspektrums.


High-Key und Low-Key-Fotografie



Ausgangspunkt ist in diesem Fall ein Bild aus der Naturfotografie, eine digitale Aufnahme. Die Bilddatei enthält daher Farbinformationen.

Hier sollen die von der Natur entwickelten Formen und Strukturen besonders zur Geltung gebracht werden. Daher soll hier nicht allein von den Farben abgesehen werden, sondern auch eine Reduktion der Tonwerte erfolgen: ein zweiter Schritt der Abstraktion.

Das Verfahren dabei: Das Bild wird in Photoshop invertiert (Strg+I). Anschließend werden über Bild-Korrekturen-Schwarzweiss die Regler für die einzelnen Farben verschoben und die Wirkung beobachtet.

In vielen Fällen, so auch hier, lohnt es besonders, die Regler für Rot, Gelb und Blau probeweise über den gesamten zur Verfügung stehenden Einstellbereich hinweg zu verschieben. Ein mögliches Ergebnis:

Nun ist das Bild auf grafisch wirkende Strukturen reduziert, geometrische Muster, die sich überwiegend in nahezu schwarzen Linien und Kurven auf nahezu weißem Grund zeigen. Nur als Hintergrund bilden sich rundliche Flächen in wenigen Grauton-Abstufungen ab. 



 

Auf diese grundlegenden Überlegungen – als Einführung zum Thema Schwarz-Weiß-Fotografie gedacht – könnte in weiteren Schritten die Beschäftigung mit klassischen Meistern der Schwarz-Weiß-Fotografie folgen, die Auseinandersetzung mit jeweils 2 oder 3 Aufnahmen aus wichtigen Sparten der Schwarz-Weiß-Fotografie. Zum Beispiel:


Im Themenbereich Natur:  Formen der Natur (Edward Weston…),  Landschaft (Ansel Adams…),

 

Im Themenbereich Mensch - Menschenleben:  Porträt – (Pan Walther…),  „Schnappschuss“: Im Einzelbild einen typischen, ausdrucksstarken Augenblick festhalten (Henri Cartier-Bresson…), „Street photography“ – Sammelndes Aufspüren der Vielfalt des Lebens in den Städten – (Thomas Leuthard…), Reportage - Bildserien


Im Themenbereich von Menschen Geschaffenes und Geformtes: Stadtlandschaft und Architektur, Wirkung von Formensprache, 
Stillleben, Abstraktes, Dinge u.a. in der Fotografie der Neue Sachlichkeit (Albert Renger-Patzsch…)


Sonderfall: Infrarot

 

Zusammenfassung der Hauptaspekte – worum es in der Schwarz-Weiß-Fotografie geht:

1.      Das alltäglich Gewohnte hinter sich lassen. Berührendem einen Ausdruck geben.

2.      Weniger zu einem Mehr werden lassen.  Abstraktion, Reduktion fördern Nachdenken und Reflexion.

3.      Dem Wenigen, was bleibt und dadurch intensiver wirkt, besondere Aufmerksamkeit schenken.


Share by: